Nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 2008 muss das Bundeswahlgesetz überarbeitet werden (Urteil vom 03.07.2008, 2 BvC 1/07, 2 BvC 7/07). Das Gericht monierte, dass der Effekt des sogenannten negativen Stimmgewichts verfassungswidrig sei. Dieser Effekt beschreibt das Phänomen, wonach ein Gewinn von Zweitstimmen zum Mandatsverlust und ein Verlust von Zweitstimmen zum Mandatsgewinn einer Partei führen können. Er entsteht aufgrund der geltenden Vorschriften für die Zuteilung von Sitzen im Bundeswahlgesetz. Der Makel muss bis zum 30.06.2011 beseitigt sein.
Bereits der jetzt amtierende Deutsche Bundestag hätte nach einem verfassungsmäßigen Wahlrecht gewählt werden können. Die grüne Bundestagsfraktion legte einen entsprechenden Gesetzentwurf in der 16. Wahlperiode als Beratungsgrundlage vor, der jedoch von der damaligen Mehrheit abgelehnt wurde (vgl. Bundestagsdrucksache 16/11885). Insbesondere die CDU/CSU setzte auf eine Verzögerungstaktik obwohl der ihr angehörende Bundestagspräsident Lammert schon am 12.02.2009 gegenüber Zeit-Online mahnte:
„Es ist unbedingt erwünscht und bei gutem Willen auch möglich, die Regelung des Wahlrechts noch so rechtzeitig zu korrigieren, dass sie schon bei der nächsten Bundestagswahl Anwendung finden könnte“ Es sei „mehr als ein Schönheitsfehler, wenn auch nach der nächsten Bundestagswahl einzelne Überhangmandate unter genau den beanstandeten Bedingungen erneut zustande kämen.“
Auch der damalige Bundesinnenminister Schäuble drängte auf eine rasche Reform und beteuerte gegenüber Spiegel-Online am 03.03.2009:
Falls der Bundestag eine Reform einleite, sei er – Schäuble – „bereit und in der Lage unmittelbar zu unterstützen.“
Nachdem die Union das Vorhaben trotz vieler mahnender Stimmen anfangs verschleppte, konnte der damalige Unionsfraktionsvize Bosbach am 06.05.2009 gegenüber AFP nur noch feststellen:
„Theoretisch wäre eine schnelle Reform wünschenswert, praktisch ist sie aber vor der Bundestagswahl nicht mehr zu schaffen.“
Eine Reform sei, so der Innenexperte der Union, Hans-Peter Uhl, mathematisch sehr kompliziert und könne daher seinerzeit „nicht übers Knie gebrochen werden.“ (ddp-Meldung vom 30.06.2010).
Das die Neuregelungen indes nicht so kompliziert ausfallen müssen, wie von der Union selbst befürchtet, macht der jetzt von der Koalition vorgeschlagene Weg zur Umsetzung der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung deutlich:
„Danach soll es grundsätzlich bei dem bisherigen System mit Erst- und Zweitstimme bleiben, durch das auch sogenannte Überhangmandate entstehen können. Auch bei dem förderativen Aufbau mit Landeslisten soll es nach dem Willen von Union und FDP bleiben. Der Effekt des ‚negativen Stimmgewichts’ soll dadurch behoben werden, dass für jedes Bundesland festgelegt wird, wie viele Abgeordnete von dort kommen, ehe nach dem Stimmverhältnis in diesem Land die Zuteilung auf die Parteien erfolgt.“ (FAZ vom 30.09.2010)
Das Wahlgebiet wird dadurch faktisch in 16 Einzelwahlgebiete aufgeteilt, aus denen eine jeweils vorher festgelegte Anzahl von Abgeordneten nach Berlin entsandt wird. Das hört sich kompliziert an, wäre aber auch 2009 kurzfristig durchsetzbar gewesen.
Entscheidend sind aber die inhaltlichen Mängel an diesem Vorschlag: Überhangmandate dürften etwa im selben Umfang wie bislang erhalten bleiben – ein Vorteil, der vor allem den Parteien von CDU/CSU und SPD zu Gute kommt und der mit dem grünen Gesetzentwurf faktisch beseitigt worden wäre. Überhangmandate verzerren aber das Wahlergebnis, da für letzteres nach den Bestimmungen des Wahlgesetzes das Zweitstimmenergebnis entscheidend sein soll. Hinzu kommt, dass mit der Aufteilung des Bundesgebietes in 16 Wahlgebiete der unitarische Charakter der Bundestagswahl verloren geht. Nicht ein Bundesvolk wählt seine Volksvertretung sondern 16 im Bund zusammengeschlossene jedoch einzeln agierende Landesvölker – eine Vorstellung die im Kaiserreich das Verfassungsleben bestimmte und damit eigentlich der Vergangenheit angehören sollte. So vermerkt auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil:
„Der Bundesgesetzgeber ist bei der Wahl zum Bundestag als dem unitarischen Verfassungsorgan des Bundes daher nicht verpflichtet, förderative Gesichtspunkte zu berücksichtigen.“ (Rz. 120)
Und schließlich wird das bei jeder Parlamentsreform artikulierte Ziel der Verkleinerung des Bundestages ad absurdum geführt, da sich das Parlament durch Überhangmandate vergrößert.
Der schon zitierte Hans-Peter Uhl hatte im Juni 2009 ferner festgestellt.
„Bei der Verteilung der Sitze im Parlament brauchen wir eine größtmögliche Übereinstimmung der Parteien und dürfen nicht nach parteipolitischen Vorteilen schielen.“ (a.a.O.)
Ob die Union diesen Vorsatz selbst noch ernst nimmt und die übrigen Fraktionen des Bundestags zu inhaltlichen Verhandlungen über eine bestmögliche Reform des Bundeswahlgesetz eingeladen werden, darf vor dem Hintergrund der zunächst eingeschlagenen Verzögerungstaktik der Union und des jetzt vorgelegten Vorschlags der Koalitionsfraktionen bezweifelt werden. Denn ohne die Bereitschaft der Koalition zu Verhandlungen über einen Ausgleich für Überhangmandate oder die Verringerung der Wahlkreise träte offenkundig zu Tage, dass es der CDU/CSU und mit ihr im Schlepptau auch der FDP im Wesentlichen um die Sicherung von Überhangmandaten geht. Das dürfte keine gute Basis für einen so wichtigen Bereich wie dem des Wahlrechts sein.
Das wäre dann so etwa das schottische Wahlrecht – dort gibt es auch 8 abgeschlossene Wahlregionen, von denen jeder 15-17 Sitze (bei 8-10 Wahlkreisen pro Wahlregion hat). Das Ergebnis sind ziemlich viele Überhangmandate für Labour und die Liberalen (d.h. die beiden Parteien die sich das Wahlrecht in der Scottish Constutional Convention ausgedacht haben und die dann auch 1999-2007 eine Koalition bildeten).
Was ich nicht ganz verstehe ob „dass für jedes Bundesland festgelegt wird, wie viele Abgeordnete von dort kommen“ bedeutet das Überhangmandate dann doch die Anzahl der Abgeordneten pro Land vergrößern oder ob (wie in Schottland) die Anzahl der Abgeordneten pro Land absolut gedeckelt ist. In letzteren Fall würde sich die Problematik der Überhangmandate sogar noch verschärfen, da de facto die Überhangmandate in einer Wahlregion/einem Land von den anderen Parteien abgezogen würden. Aber das wäre wohl absolut verfassungswidrig.
Auch würde der Vorschlag der Union z.T. zu sehr hohen natürlichen Sperrklauseln führen, wahrscheinlich mehr als 6% im Saarland und deutlich über 10% in Bremen…