Wenn Politik auf Wirklichkeit trifft

Wenn Politik auf Wirklichkeit trifft,

dann findet das weder bei Herrn Plasberg noch wie bei Herrn Westerwelle in den Nachmittags-Talkshows statt. Eigenes Erleben und konkrete Erfahrungen der Menschen, die einem begegnen, ist durch die von den Medien vermittelte Abbildungen der Wirklichkeit nicht zu ersetzen.

Pflegereform, Patientenverfügung, Palliativversorgung – in dieser Wahlperiode wurde viel über Krankheit, Pflege und Sterben in Würde geredet. „Wir werden jetzt mit der Pflegereform dafür sorgen, dass jeder so lange wie möglich zu Hause bleiben kann“, versprach die Gesundheitsministerin bei der Verabschiedung der Pflegereform.

Doch wie sieht die Wirklichkeit aus?

Durch die Krebserkrankung meines Mannes habe ich in den letzten Monaten Erfahrungen mit den französischen und deutschen Pflegestrukturen gemacht.

In Frankreich gibt es eine stabile Versorgungsstruktur, die sich hospitalisation à domicile (HAD) nennt. Eingebettet in die Struktur eines Krankenhauses wird die Pflege zu Hause organisiert. Die gesamte Pflege und Organisation der Betreuung wird vom Krankenhaus gemanagt. 24 Stunden am Tag ist eine Hotline erreichbar, an die man sich im Notfall wenden kann. Auch wenn man sich die Ergänzung dieser Struktur um einen ärztlichen Dienst wünschen würde, vermittelt diese Struktur große Sicherheit für den Patienten, die Angehörigen und das Pflegepersonal.

Anders in Deutschland. Trotz einer existierenden Home-Care-Struktur führen Defizite bei der Organisation zu unnötigen Krankenhauseinweisungen, nur weil es keine belastbare Infrastruktur im Hintergrund gibt. Wir konnten solche Einweisungen nur durch die Hilfe befreundeter Ärzte abwenden. Ohne diese privilegierte Situation wäre in nur 3 Wochen mindestens 3 mal eine Krankenhauseinweisung nötig gewesen.

– Ein Katheder platzt zur falschen Zeit, nach Ladenschluss. Die Apotheke sagt, in einigen Stunden könne sie sagen, ob sie noch einen geliefert bekommt. Man solle halt ins Krankenhaus gehen, wenn es eilt.
– Eine Verlängerung der Infusionsleitung ist defekt. Der Pflegedienst weiß nicht, wo er am Wochenende Ersatz auftreiben kann.
– Ein Urologe wird benötigt. Nach Anruf in zahllosen Praxen Ergebnis der Pflegedienstleiterin: Für Kassenpatienten gebe es gar keine Urologen, die Hausbesuche machen würden. Da müsse man halt ins Krankenhaus, meinten die Ärzte.
– Warum soll man eine Bluttransfusion nicht auch zu Hause machen können?

Weil es an einer Logistik für Materialien fehlt oder weil Fachärzte meinen, dass sie bei einem Hausbesuch nicht genug verdienen, soll ein Schmerzpatient qualvoll Treppen rauf und runter gekarrt werden? Wie oft soll ein Patient solche Torturen ertragen bis er aufgibt und resigniert einfach im Krankenhaus bleibt, weil er diese Qualen nicht noch zusätzlich ertragen kann? Die Kaltschnäuzigkeit dieser Fachärzte macht mich wütend.

Wo bleibt das ärztliche Berufsethos? Und warum fühlt sich in Deutschland offensichtlich niemand verantwortlich für die Hauspflege in einem Krankenhaus oder einer anderen Anlaufstelle alles notwendige Material zur Verfügung zu halten? In Frankreich geht es doch auch.

Kern des Problems, sagen Fachleute, sei die unselige Trennung zwischen dem ambulanten und stationären Sektor, letztlich zementiert durch das Mantra der Freiberuflichkeit bei den niedergelassenen Ärzten. Vor einigen Monaten haben die Kassen mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung eine Sondervereinbarung zur sog. „Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung“ (SAPV) abgeschlossen, die spezielle Vergütungsregeln für Home Care enthält. Wie in allen sensiblen Bereichen argumentiert die Ärzteschaft, derartige Leistungen müssten zusätzlich zur Gesamtvergütung inzentiviert werden. Nun kritisiert sie die aus ihrer Sicht viel zu geringe zusätzliche Vergütung bei der SAPV. Parallel dazu ist die Gesamtvergütung für die niedergelassenen Kassenärzte in den letzten zwei Jahren um über 11% gestiegen…

Ich will in der nächsten Wahlperiode nicht Gesundheitspolitiker werden, sondern meine Arbeit im Bereich Menschen- und Bürgerrechte fortsetzen. Aber diesen Defiziten werde ich nachgehen. Das hohe Lied auf pflegende Angehörige können sich die GesundheitsministerInnen aller Couleur sparen, wenn diese Missstände nicht beseitigt werden.

Ein Gedanke zu „Wenn Politik auf Wirklichkeit trifft

  1. Sebastian Gröbe

    Ich kann diese Ereignisse und die damit verbundenen Emotionen sehr gut nachvollziehen und ich finde gut, dass Sie, Herr Beck, bereit sind, politisch Bewegung in diese Sache zu bringen. Das ist auch bitter nötig. Ich arbeite im Bereich der SAPV als Mitglied eines Spezialisierten Palliative Care Teams (PCT). Mir kommt in Ihrer Darstellung allerdings etwas zu kurz, dass es bereits, wenn leider auch bisher nur vereinzelt und noch nicht flächendeckend (was auch mit der „Blockadepolitik“ der Gesetzlichen Krankversicherer zusammenhängt, Direktverträge mit PCT’s nicht abzuschließen, obwohl der gesetzliche Anspruch seit 2007 besteht – vergleiche hierzu diverse Stellungnahmen von Experten (www.sapv.de) und anderer Kommentare!) PCT’s und engagierte Professionelle gibt, die hart und mit viel Engagement daran arbeiten, diese Situation zu ändern, bestehende Barrieregrenzen zwischen den Sektoren zu überwinden und ein würdiges Sterben mit viel Fachkompetenz der beteiligten Berufsgruppen zu ermöglichen. Diese Arbeit sollte ebenso gewürdigt werden, wie die Motivation, politisch den Weg einer effizienteren und MENSCHLICHEREN Gesundheitsversorgung zu bereiten!

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